«Im Anfang war das Wort»: Besuch der Vadiana St. Gallen
Am Samstagmorgen, 6. Mai, trafen sich zuerst die ‚Busfahrer‘ an der Haltestelle „Kirche Mörschwil“, um zu einer Führung durch die Bibelsammlung der Kantonsbibliothek St. Gallen aufzubrechen. Weitere Teilnehmende stiessen dann vor dem Eingang der Vadiana hinzu, und so konnten wir kurz nach 10 Uhr mit der Führung beginnen. Remo Wäspi freute sich, den 12 Teilnehmenden Wolfgang Göldi, langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kantonsbibliothek, vorstellen zu dürfen.
Die Kantonsbibliothek Vadiana besitzt neben wenigen Handschriften aus dem Mittelalter dutzende von Laufmetern an gedruckten Bibeln aus der Frühzeit des Buchdrucks bis zur Gegenwart. An Hand von rund 20 ausgewählten wertvollen oder interessanten Bibeln führte uns Wolfgang Göldi abwechslungsreich, informativ und chronologisch durch die spannende Publikationsgeschichte der Bibel.
Mit der Christianisierung unserer Gegend verbreiteten sich und entstanden (etwa im Benediktinerkloster St. Gallen) Bibelhandschriften. Zwei präsentierte Handschriften stammen aus dem Spätmittelalter: eine reich illustrierte und in kleinster Schrift von Hand verfasste Taschenbibel rief Erstaunen hervor. Diese Pergamenthandschrift glänzt durch die zahlreichen kleinen figürlichen Darstellungen von Menschen, Tieren und Fabelwesen, die sich im Rankenwerk von Initialen und Bordüren finden. Die zweite Handschrift, eine im Elsass um 1450 entstandene Historienbibel bringt in frei bearbeiteten Prosatexten die bekanntesten biblischen Texte in Kurzform und beeindruckt durch die lebendigen, volkstümlichen und kolorierten Federzeichnungen.
Mit der Erfindung des Buchdrucks um 1450 stieg die Anzahl der Bibeln stark an. Als Beispiel einer in Latein gedruckten Bibel vor 1500 zeigte uns Wolfgang Göldi ein Exemplar, das 1480 in Ulm gedruckt wurde und Vadian als Vorbesitzer gehörte. Sie beeindruckt durch die grossen Initialen und das farbige Flechtwerk. Die in Mainz um 1452-54 gedruckte Gutenberg-Bibel besitzt die Vadiana nur als Faksimile. Die farbigen Blumen- und Blätteranken sowie die Initialen wurden nach dem Druck individuell von Illustratoren gemalt, so dass jedes Werk ein Unikat ist.
Die Bibliothek besitzt neun zwischen 1475 und 1490 gedruckte deutsche Bibeln. Das Glanzstück unter ihnen ist zweifellos die 1483 in Nürnberg bei Anton Koberger erschienene Bibel. Sie glänzt durch ihre von Hand bereits in der Druckerei kolorierten grossformatigen 109 Holzschnitte. Sie ist die wohl schönste Bibel vor der Bibelübersetzung durch Luther.
Von grösster geistesgeschichtlicher Wirkung war der Druck des Neuen Testaments in der griechischen Ursprache mit einer eigenen lateinischen Übersetzung durch Erasmus von Rotterdam. Er kam damit einem Prinzip des Humanismus nach, der u.a. eine Rückkehr zu den ursprünglichen Quellen forderte. Die Vadiana besitzt eine Ausgabe von 1522; Luthers allgemein verständliche Übersetzung auf Deutsch basiert auf der Ausgabe von 1519. In der Vadiana liegt eine Ausgabe von Luthers „Septembertestament“ (erstmals 1522 in Wittenberg erschienen) von 1523, die in Basel gedruckt wurde. Die Reformation, die eine konsequente Schriftorientierung postulierte und die das Lesen der Bibel als Pflicht der Gläubigen verstand, liess die Bibelproduktion enorm hochschnellen. Zudem entstanden zahlreiche volkssprachliche Bibelübersetzungen. Die Vadiana zählt davon einige hundert Exemplare. Andreas Göldi stellte aus der Reformationszeit u.a. die von Zwingli und Leo Jud übersetzte Zürcher Bibel vor: Sie zeichnet sich durch zahlreichen Buchschmuck sowie einspaltige Illustrationen aus und orientierte sich am alemannischen Dialekt, da Luthers Sprache für die Eidgenossen anfänglich nur schwer verständlich war.
Vom 16. bis ins 19. Jh. erschienen polyglotte Bibeln: In diesen mehrsprachigen Ausgaben finden sich neben hebräischen, aramäischen und griechischen Urtexten weitere Übersetzungen. Ziel war es, die Hl. Schrift wieder in Urgestalt ans Licht zu bringen. Die Vadiana besitzt u.a. die „Biblia regia“, die im Auftrag des span. Königs Philipp II. 1569-1573 in Antwerpen erschien und acht schwergewichtige Folianten umfasst. Andreas Göldi zeigte auch ein Beispiel einer „Kurfüstenbibel“, die ihren Namen von den in ihr abgebildeten Porträts von protestantischen Kurfürsten aus der Reformationszeit herleitet.
Ein weiteres Highlight ist die zwischen 1731-1735 erschienene Kupferbibel des Zürcher Naturforschers Joh. Jakob Scheuchzer mit 750 grossformatigen Kupferstichen. Sie ist eines der schönsten Werke barocker Druckkunst. Scheuchzer wollte damit beweisen, dass die göttliche Schöpfung nach dem AT wissenschaftlich korrekt sei. Aufgefundene Versteinerungen galten etwa als Beweis der Sintflut.
Der Schlusspunkt der Präsentation war die 1869/1873 publizierte Doré-Bibel, benannt nach dem franz. Illustrator Gustave Doré mit 460 grossformatigen Holzstichen. Die Prachtbände gehören zu seinem Editionsprojekt, mit dem er die wichtigsten Werke der Weltliteratur in grossformatigen illustrierten Werken herausgeben wollte. Hatte bereits der Pietismus die Schriftlektüre des Volkes im 17. und 18. Jh. gefördert, so verstärkten die ab 1800 entstandenen Bibelgesellschaften die Herstellung und Verbreitung von günstigen Bibeln. Die Vadiana besitzt Dutzende von diesen Bibeln in praktisch allen Weltsprachen. Im Gegensatz zu den reformierten Kirchen blieb in der Katholischen Kirche die lateinische Vulgata bis ins frühe 20. Jh. verbindlich. Das Lesen von Bibelübersetzungen oder der Druck von Bibeln bedurfte der bischöflichen Erlaubnis.
Die Führung schloss mit einem gemütlichen Beisammensein im Café Gschwend. Herzlichen Dank an Wolfgang Göldi für die eindrückliche und sympathische Führung und an Remo Wäspi, dem Organisator dieses wunderschönen Anlasses.