Die Zukunft kommt aus der Erinnerung

Am 22. Oktober hatten wir zum zweiten Mal Kuno Füssel zu einem Studientag unserer Erwachsenenbildung zu Gast. Nunmehr ging es um die Anfänge der christlichen Gemeinschaft. „Eine Lektüre der ersten Kapitel der Apostelgeschichte“ lautete der Untertitel. Wie schon im Vorjahr hatten sich Interessent:innen mit verschiedensten Hintergründen eingeschrieben, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und dabei an Kuno Füssels grosser Fachkenntnis und Erfahrung teilzuhaben.

Ausgangspunkt war die Verheissung Jesu an die Jünger (Apg 1,8): „Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde.“ Jesus, so eine erste Quintessenz des Referenten, ging es nicht etwa um die Weihe von Priestern, sondern um die Nachfolgegemeinschaft, die Sammlung und Wiederherstellung der jüdischen Gemeinde, die Basis – um das, was Christen bewegt.

Kuno Füssel stellte diesen Ausgangspunkt dann zunächst einmal in grundlegende biblische Zusammenhänge. Als Teil des ‚lukanischen Doppelwerkes‘ folgt die Apostelgeschichte unmittelbar auf das Lukasevangelium. Insofern fussen die Ausführungen zur jesuanischen (anfänglich noch gar nicht als ‚christlich‘ gekennzeichneten) Bewegung auf dem Lukasevangelium. Es wurde festgehalten, dass in der Apostelgeschichte z.B. viele Frauen eine Rolle spielen, ebenso Ehepaare, und dass Lukas einen Hinweis auf die Verlässlichkeit der Dinge an den Anfang stellt:

„Im ersten Buch, lieber Theophilus, habe ich über alles berichtet, was Jesus von Anfang an getan und gelehrt hat, bis zu dem Tag, an dem er in den Himmel aufgenommen wurde. Vorher hat er den Aposteln, die er sich durch den Heiligen Geist erwählt hatte, Weisung gegeben. Ihnen hat er nach seinem Leiden durch viele Beweise gezeigt, dass er lebt; vierzig Tage hindurch ist er ihnen erschienen und hat vom Reich Gottes gesprochen“ (Apg 1,1-3).

Als wichtige Bestandteile der Apostelgeschichte wurden z.B. konkrete Ortsangaben zu Ereignissen, Schilderungen der Struktur des römischen Reichs als Kontext der Entwicklungen, alttestamentarische Verbindungen zum Judentum sowie eine Vielzahl von Akteuren (nicht nur in Form von Personen, sondern auch in Form des Heiligen Geistes) ausgemacht.

Den nächsten Schwerpunkt des Studientages bildete das Pfingstereignis (Apg 2,1-13): „Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie waren fassungslos vor Staunen und sagten: Seht! Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören“ (Apg 2,4-8).

Zunächst ist die grosse Unterschiedlichkeit der Herkünfte derer bemerkenswert, die dort zum gleichen Fest, nämlich Pfingsten, zusammenkamen: „Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadokien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Kyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber“ (Apg 2,9-11).

Die Erfüllung der Apostel, so Kuno Füssels Anregung, lässt sich auch dahingehend interpretieren, dass die Unvergleichbarkeit der Sprachen ‚geheilt‘ wurde. Plötzlich konnten alle verstehen, was sie verbindet und zusammenhält, und worin ihre Indentität besteht. Der Heilige Geist wird insofern zur Bedingung der Möglichkeit des Verstehens dieser Identität. Das ‚Wie‘ und das ‚Was‘ des Sprechens werden eins.

Als vierten Themenkomplex diskutierten wir vor der Mittagspause das gemeinsame Leben (Apg 2,43-47) und die Entstehung einer neuen Form der Gütergemeinschaft in der noch jungen ‚Urgemeinde‘ (Apg 4,32-37). Im Kontrast dazu steht der Betrug des Hananias und der Saphira (Apg 5,1-11). Die Verletzung der für die Gemeinschaft verbindlichen Regeln und das unsolidarische Verhalten haben massive Folgen.

Denn diese Gemeinschaftlichkeit („Und alle, die glaubten, waren an demselben Ort und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und teilten davon allen zu, jedem so viel, wie er nötig hatte“, Apg 2,44-45; „Die Menge derer, die gläubig geworden waren, war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam“, Apg 4,32) trägt enorme Früchte: „Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt“ (Apg 4,34). Voraussetzung, dass diese neue Ordnung funktionierte, war einerseits der Glaube, dass Gott – der über allem wohnt – der Eigentümer ist, und andererseits bedingungslose Solidarität.

Nach dem gemeinsamen Zmittag lud uns Isabelle Müller-Stewens mit ihrem Bibliolog über ‚Die Wahl der Sieben‘ (Apg 6,1-7) zu einer Reise in die Vergangenheit ein. Der bequeme ‚fliegende Teppich‘ führte uns an den Ort des Geschehens. Wir versetzten uns in Situationen und Handelnde. Das spielerische, interaktive Format förderte ganz verschiedene Blickwinkel auf die Rollen- und Aufgabenteilung, die Gewichtung von Aufgaben und die Bildung von Strukturen. Das bezog sich nicht nur auf diese Episode der damaligen christlichen Gemeinde. Es löste auch Statements zur heutigen Situation und zur zukünftigen Entwicklung aus.

An den Schluss des Studientages stellte Kuno Füssel die Rede des Stepanus (Apg 7,1-53). Diese grossartige, alttestamentarische ‚Tour d’horizon‘ gipfelt in der Anklage der Hohenpriester: „Ihr Halsstarrigen, unbeschnitten an Herzen und Ohren! Immerzu widersetzt ihr euch dem Heiligen Geist, eure Väter schon und nun auch ihr. Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten geweissagt haben, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid, ihr, die ihr durch die Anordnung von Engeln das Gesetz empfangen, es aber nicht gehalten habt“ (Apg 7,51-53).

Im Einladungstext zu diesem Anlass hiess es: „Es entstehen viele Fragen: Worin liegt das Erfolgsgeheimnis dieser messianischen Bewegung? Wo können wir heute anknüpfen? Was müssten wir neu erfinden in der Kraft des Heiligen Geistes? Suchen wir gemeinsam nach Antworten, denn einer allein wird sie nicht finden.“ Genau das konnten wir einen erfüllten und erfüllenden Tag lang tun. Da hatte Kuno Füssel nicht zuviel versprochen.

Dr. Kuno Füssel studierte Mathematik und Physik, arbeitete einige Zeit bei einer Computerfirma und entschloss sich dann, in Münster Theologie zu studieren. Dort Promotion bei Karl Rahner und Wiss. Assistent von Johann B. Metz von 1971-1982. Danach Lehrbeauftragter, Übersetzer und von 1998 bis zur Pensionierung 2007 Lehrer für Mathematik, Physik und Religion in Koblenz.

Post scriptum: Auf die Rede des Stephanus folgt prompt seine Steinigung (Apg 7,54-60) und die Verfolgung und Zerstreuung der Urgemeinde (Apg 8,1-4). Eine wenig versöhnliche Zwischenbilanz dieser ersten Kapitel der Apostelgeschichte? Oder die Einsicht, dass wir keine glanzpolierte Erfolgsgeschichte vorgesetzt bekommen, sondern die Realität herausfordernder Gemengelagen, wie wir sie heute erleben und auch in Zukunft erleben werden?

Jürgen Spickers, Pfarreiratspräsident