Johannes der Täufer
Johannes der Täufer ist eine der markantesten Persönlichkeiten des Neuen Testaments. Durch die Berufung vom Mutterleib an (Lukas 1,13) hat Gott Johannes von vorneherein aus dem Familienverbund herausgerufen. Nun müssen die Eltern, Elisabeth und Zacharias, ihr Kind loslassen, es einmütig für seine Berufung freigeben. Die Wahl des Namens Johannes – Gott ist gnädig – ist das Zeichen dafür. Es handelt sich bei dem von Gott bestimmten Namen nicht um einen Namen, der das Kind als zugehörig zu seiner Familie ausweist, wie es der Gewohnheit entsprach. Indem Elisabeth und Zacharias ihrem Sohn den von Gott bestimmten Namen geben, drücken sie ihre Freude über die geschenkhafte Gnade der Geburt und ihr grenzenloses Vertrauen in Gottes rettendes und befreiendes Wirken aus. Beide geben ihren Sohn für seinen göttlichen Auftrag frei – und Gott damit zurück.
Der aufgrund seines Zweifels an der Ankündigung des Engels verstummte Zacharias (Lk 1,20) kann jetzt wieder reden. Die anwesenden Verwandten und die Nachbarn staunen und erschrecken angesichts der ungeheuerlichen Ereignisse – und erkennen in ihnen das Wirken Gottes. Zacharias aber stimmt einen Lobpreis auf Gottes Heilswirken an. Das nach dem lateinischen Anfangswort Benedictus genannte Loblied bildet den Abschluss der Erzählung. Im Lukasevangelium stehen drei solcher Loblieder gleich am Anfang des Evangeliums, neben dem Lobpreis des Zacharias das Magnificat Marias (Lk 1,46-56) und das Loblied des Simeon (Lk 1,29-32). Die Loblieder bringen als Gebete das Geschehen direkt vor Gott und verleihen ihm so eine theologische Deutung.
Die LeserInnen des Evangeliums werden indirekt aufgefordert, in den Lobpreis mit einzustimmen und so in das Gespräch mit Gott einbezogen. Im Stundengebet haben diese drei Loblieder ihren festen Platz: Das Magnificat Mariens wird im Abendgebet (Vesper), das Benedictus des Zacharias im Morgengebet (Laudes) und das Loblied Simeons, Nunc dimittis, im Nachtgebet (Komplet) gebetet.
Im Bibeltext erfahren wir nichts darüber, woher Elisabeth weiss, welchen Namen Gott für ihren Sohn vorgesehen hat, wo doch der verstummte Zacharias es ihr nicht sagen konnte. In den Kommentaren liest man, dies sei unwichtig. Lesen wir aber den Kontext genau, fällt uns auf, dass Elisabeth bei der Begegnung mit Maria sogleich die Bedeutung des Augenblicks erkennt und geisterfüllt prophetisch spricht (Lk 1,39-45). Warum sollte Elisabeth nicht auch in dem besonderen Moment der Namensgebung ihres Sohnes geisterfüllt, das Wesentliche erkannt haben? Ihre Wahl des sprechenden Namens, Johannes – Gott ist gnädig, kann durchaus als eine prophetische Zeichenhandlung gesehen werden. Elisabeth wäre somit nicht nur eine der grossen biblischen Frauengestalten, sondern auch eine Prophetin.
Isabelle Müller-Stewens
(in: Müller-Stewens, Isabelle; Ruhe, Bernd: Fürchtet euch nicht! Biblische Gedanken zu den Sonntagslesungen in der Coronazeit, St. Gallen 2020, Seite 112 f.)